1. Was hält uns zusammen? Auf welchen gemeinsamen Werten gründet unsere Gemeinschaft?

Die in Deutschland lebenden Nachkommen der 4 Einwanderungswellen aus Russland und GUS-Ländern haben eine sehr starke Bindung an den europäischen Wertekanon. Die ersten drei Wellen bis 1989 bestanden in erster Linie aus den Menschen, die ihren Werten treu geblieben sind und sich den totalitären Tendenzen in der postrevolutionären Gesellschaft in Sowjetrussland nicht beugen wollten. Dazu gehören sowohl damalige Eliten wie Politiker, Wissenschaftler, Philosophen, Geistliche, Kulturschaffende, Militärbedienstete,Unternehmer etc., als auch Dissidenten und politisch Verfolgte. Nach 1989 kamen nach Deutschland viele Einwanderer, die aufgrund ihrer Abstammung oder Religion nicht unbedingt  in der Mehrheitsgesellschaft beliebt waren: Deutsche und Juden. All diese Leute verbindet mit Deutschland vor allem der Wunsch, in einem Land zu leben, der seine Politik auf gemeinsamen Grundwerten aufbaut: Demokratie, Gerechtigkeit und Liberalität. Aber auch eins ist heutzutage vielen Einwanderern aus den GUS-Ländern wichtig: gemeinsame christliche Werte, die auch außerhalb der christlichen Gemeinden in Deutschland gelebt werden. Das heißt, christliche Prägung sowohl der schöngeistigen Kultur, als auch der alltäglichen Streitkultur. Dies entspricht dem Menschenbild, das uns vom Christus aufgezeigt wurde. Gott hat dem Menschen neben den Geboten auch die Freiheit der Wahl geschenkt. Somit unterdrücht das Christentum den Willen des Menschen nicht, und lässt den Freiraum für die Entfaltung seiner Induvidualität,seiner Persönlichkeit. Dieses Grundprinzip ist in geltenden deutschen Gesetzen stark präsent. Die Gewalt, Selbstjustiz, provokante Geltungsbedürftigkeit, Intoleranz gegenüber anderslautender Meinungen und demonstrative Ignoranz guter Sitten lehnen die Einwanderer aus den GUS-Ländern entscheidend ab. Das tun wir sowohl aufgrund unseres historischen Schicksals vor der Auswanderung als auch aufgrund iunserer Treue dem christlichen Grundrecht, ein Mensch zu sein.  


2. Wie wollen wir den Rahmen ausfüllen, den unsere gemeinsamen Werte bilden?

Wir wollen in erster Linie GEMEINSAM mit der Aufnahmegesellschaft daran arbeiten, dass unsere GEMEINSAMEN christlich fundierte Werte nicht irgendwann mal zum antiquirten Überbleibsel der europäischen Geschichte werden. Dafür brauchen wir verstärkt Dialog mit deutschen Instanzen, Instituten und Organisationen. Nach unserer Meinung haben wir viele (sowohl für zugewanderte als auch für alteingesessene Bürger) gemeinsame Herausforderungen, die sich auf den Zusammenhalt der Gesellschaft und somit auf ihre Zukunft stark auswirken. Weil die Einwanderern aus den GUS-Ländern, nach dem Wort von deutschen Russland-Experten, wahre "Kindernarren" sind, wünschen wir uns mehr gemeinsame kooperative Problemlösungen in den Bereichen wie vorschulische Erziehung der Kinder, Qualität der schulischen Bildung, Stärkung der Familien, Zusammenhalt der Generationen, Bekämpfung des Auschlusses durch die Gesellschaft im Alter. Ein weiteres Problemfeld bilden berufliche Zukunftsperspektiven, die sich vor den Menschen in Deutschland eröffnen. Vage Berufschancen infolge der nicht mehr modernen mitgebrachten eruflichen Qualifikation und Unsicherheit beim Besuch des JobCenters führen zur Frustration, psychlogischen Problemen, Konflikten in der Familie und somit zum Gefühl, von der Mehrheitsgesellschaft nicht gebraucht zu werden. In dieser Situation denkten die Einwanderer aus den GUS-Ländern mehr daran, wie sie aus dieser prekären Situation 'rauskommen, als auf die Pflege gemeinsamer Werte. Die sehr hohe Zahl der Selbständigen mit "russischem" Migrationshintergrund mit 46% ist wesentlich höher als bei deutschen Bürgern und zeigt, dass ihnen die berufliche Eingliederung bei alteingesessenen deutschen Arbeitgebern  immer noch schwerfällt. Beunruhigend ist auch, dass bei dieser Zwangsselbständigkeit die Einwanderer in der Dienstleistungssphäre arbeiten, die ganz eindeutig auf dieselbe Einwanderercommunity zugeschnitten ist. Die deutsche Sprache findet darin nur beschränkt Gebrauch. Für die Besinnung auf gemeinsame Werte ist jedoch der gemeinsame Kommunikationsraum zwingend notwendig.
Das heißt, für die Bildung gemeinsamer Werte brauchen wir eine praktische tragfähige Grundlage, wobei bei gleichen Chancen und Miteinbeziehung aller Bürger in die pädagogische, soziale und professionelle Sphäre des lebens in Deutschland das Gefühl der Zugehörigkeit zur gemeinsamen Gesellschaft gestärkt wird. Da unsere Kirche in allen europäischen und transatlantischen Ländern präsent ist, können wir konstatieren, dass gerade die praktische soziale Kompetenz des Einwanderers eine Basis für die sichere wertebasierte Position eines Bürgers bildet und nicht umgekehrt. Je mehr praktische Erfahrung des Zusammenlebens sich die Einwanderer in Deutschland aneignen, je mehr praktische Chancen ihnen gegeben wird, desto mehr Engagement bringen sie später als gute Bürger ihers Landes ein.


3. Was bedeutet Heimat für jeden einzelnen? Sind zwei Heimaten möglich?

Die Heimat ist für uns eindeutig ein kulturell, religiös und sprachlich geprägter Begriff. Im Unterschied zu Deutschland ist "die Heimat" für die Einwanderer aus den GUS-Ländern kein politischer oder fester territorialer Begriff. Wir unterscheiden ganz klar zwischen der schöngeistigen Kultur, die keine Grenzen kennt, und der Politik, die normalerweise lokal stattfindet. Auch geschichtlich unterscheiden sich die Ansichten der modernen deutschen Bürgern und der (zumeist) russischsprachigen Einwanderer. In der russischen Geschichte gab es viele umstrittene Persönlichkeiten, die totalitär agiert haben: Iwan der Schreckliche, Peter der I., Alexander I., Iosif Stalin, Juri Andropow, allerdings gibt dies uns kein Grund, das Land und die Tausend Jahre alte Kultur dieses Landes, zu der auch unsere Kirche untrennbar gehört, allein unter dem politischen Aspekt zu betrachten. Dieselben Kriterien wenden wir auch auf Deutschland an. Für uns sind beide Kulturen - deutsche und russische - von enormer Wichtigkeit. Unsere Kinder lesen Goethe und Puschkin, Rilke und Lermontow, Stefan Zweig und Leo Tolstoi, feiern Weihnachten sowohl am 24. Dezember als auch am 7. Januar (nach dem alten russischen Kalender), spielen in Musikschulen Tschaikowski und Schnittke. Sogar in Russland gratuliert man heute Katholiken und Lutheranern zu ihren Weichnachten, feiert man Oktoberfest, kauft man bei jetzt ganz modern gewordenen deutschen Bäckereien und lädt man gerne in Moskau in eine "deutsche" Kneipe auf einen Paulaner mit Thüringer oder Bayrischen Würsten. In Regalen vieler großen Bücherläden werden Bücher von Goethe, Schiller, Heine, Rilke, Novalis, Fontane, Kafka, Frisch, Böll, Schopenhauer, Dürrenmatt, Kant etc. gern verkauft. 
Sehr aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ist das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven. Die Sonderausstellung zeigt sehr überzeugend, dass die damaligen Emigranten das Territorium, jedoch nicht den deutschen kulturellen Raum verlassen haben. Auch für die heutigen Spätaussiedler, die in Russland seit 250 Jahren lebten, war immer Deutschland Heimat. 
Aus diesem Grund denken wir, dass zwei Heimaten sehr wohl möglich sind und heute von vielen Menschen weltweit gelebt werden.


4. Welche Rolle können mitgebrachte kulturelle Identitäten für die Weiterentwicklung der deutschen Identität spielen?

Deutschland ist eine offene Gesellschaft, die mitten in Europa liegt. In Mitteleuropa sind multiple Identitäten Alltag. Man denke dabei an die Schweiz, Belgien, Luxemburg, Österreich, skandinavische und osteuropäische Länder vom Baltikum bis Balkan. Auch im internationalen Wettbewerb gewinnt die Multikulturalität immer mehr an bedeutung. Deutschland braucht verstärkt Spezialisten mit Kenntnissen mehrerer Kulturen. Renommierte Firmen werten bei Bewerbungen sehr positiv Erfahrungen aus einem anderen kulturellen Raum und fordern Kenntnisse mehrerer Sprachen, wobei eine osteuropäische bzw. asiatische Sprach zusätzliche Pluspunkte bringt. Denn ein kulturell vielfältiger Raum bietet ein gutes Plattform für den Ideen- und Erfahrungsaaustausch. Ganz wichtig ist, dass die vielfältige Gesellschaft eine Basis für pluralistisches Denken und somit für gelebte Demokratie bildet. Respekt und Toleranz zueinander bedeutet für uns gleichzeitig Einhaltung bestimmter Normen, die sich aus dem ersten Satz der deutschen Verfassung ableiten lassen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Das heißt für uns, dass wir kulturelle Identitäten willkommen heißen, die zur persönlichen Entfaltung des Menschen und der ganzen Gesellschaft beitragen. Im Gegensatz zu der Vielfalt SCHÖNGEISTIGER Ausdrucksformen sind wir fest überzeugt, dass in Deutschland NUR EINE STREITKULTUR geben kann, die ein friedliches Zusammenleben sicherstellt. Mitgebrachte Gewohnheiten, die mit der hierzulande üblichen Kultur der Konfliktlösung in Wiederspruch stehen, sollen ohne wenn und aber abgelegt werden. 
Insofern sind mitgebrachte kulturelle Identitäten, die mit der bundesdeutschen politischen Identität im Einklang stehen, eine Bereicherung für Deutschland.


5. Wie schaffen wir konkrete verbindende Elemente? Was stärkt unsere gemeinsame Identität?

Verbindende Elemente können geschaffen werden, indem die Arbeit an Integrationsorten verstärkt wird, die Schnittpunkte zwischen den Einwanderern und der aufnehmenden Gesellschaft sind. Zu solchen Integrationsorten gehören Kindertagesstätten, Schulen, Universitäten, Vereine, Parteien, Gemeinden und natürlich die Familien. Die Identität kann keinesfalls theoretisch gestärkt werden. Nur in der gegenseitigen Interaktion, in der gemeinsamen Arbeit an gleichen Zielen kann die gemeinsame Identität herausgearbeitet werden. 
Siehe auch Antwort auf die Frage 2.


6. Woran liegt es, dass Deutschland häufig nicht als offene Gesellschaft wahrgenommen wird?

Wir sehen die Ursache zum einen in der kulturellen Geschichte. In Deutschland ist die Tradition der Vertretung gemeinsamer Interessen sehr stark ausgeprägt. Deutsche sind Vereinsmeier. Seit eh und je gab es in Deutschland unterschiedliche Vereinigungen, Verbände, Bünde, Gesellschaften, Innungen, Körperschaften. Man denke etwa an solche weltbekannte Begriffe wie der Zollverein oder die Hanse. Solche Organisationen schaffen klare innere Regeln und grenzen sich nach außen, indem sie die Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Auch der Prozess der Vereinigung deutscher Länder verlief sehr schwierig. Regionale Identitäten werden in Deutschland in der alteingesessenen Bevölkerung sehr gerne zum Ausdruck gebracht, sei es Mundart, Gebräuche, Kleidung, Ess- oder Wohnkultur, um seine Identität zu zeigen. Diese Ausdrucksformen finden vor allem bei den Einwanderern aus denjenigen Ländern wenig Verständnis, wo historisch gesehen zentralistische politische Kultur herrscht und die Kommunikation in örtlichem Dialekt eher ein Zeichen für Bildungsferne sind. Die Beherrschung der Literatursprache ist dagegen ein Muss, um sich den Aufstieg zu ermöglichen. Hierbei geht es um Russland, einige osteuropäische Länder, Türkei etc.
Zum anderen existiert ein Problem auf der strukturellen Ebene. In Deutschland ist der Zugang zum Arbeitsmarkt sehr schwer. Das liegt einerseits an den den komplizierten Modalitäten der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und an der Teilung aller Berufe in "reglementierte" und "nicht reglementierte", was wiederum die Möglichkeit der Bewilligung einer Weiterqualifizierung bzw. Umschulung beim JobCenter wesentlich erschwert. Andererseits haben die Ausländer mit dauerhaftem Aufenthalt nur dann einen Anspruch auf einen Arbeitsplatz, wenn kein Deutscher bzw. kein EU-Bürger für diesen Arbeitsplatz vermittelbar ist. Der Einwanderer kann sich erst dann in Deutschland daheim fühlen, wenn er gleiche Rechte wie ein Einheimischer besitzt. 
Zum dritten kommen dazu zahlreiche Kommunikationsprobleme, die aufgrund fehlender sozialen Kompetenz (je nach Integrationsgrad des Einwanderers) in Deutschland entstehen.


7. Wie wirkt sich diese Wahrnehmung auf die Einwanderung nach Deutschland aus?

In Bezug auf die GUS-Länder wirkt es sich sehr schwach auf die Einwanderung nach Deutschland aus. Vor allem wissenschaftliche und Frauenmigration nimmt in letzten Jahren sehr stark zu. Die Auswanderung nach Deutschland wird vor allem als Auswanderung in den europäischen Raum mit gemeinsamen Werten und dem Freizügigkeitsrecht wahrgenommen. 


8. Wie wirkt sich diese Wahrnehmung auf das Zusammenleben von Einheimischen und Eingewanderten in Deutschland aus?

Diese Wahrnehmung wirkt sich in Deutschland eher kontraproduktiv aus. Es entstehen Barrierren und Vorurteile. Es kommt zu Ausgrenzungen auf beiden Seiten. Die Gespräche mit ErzieherInnen und Lehrkräften in den Schulen verlaufen schwierig, weil die beiden Seiten auf ihren Sichtweisen insistieren. Es kommt zu Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit den deutschen Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst. Darüber hinaus bleiben viele Einwanderer der Vereinsarbeit fern.nur ca. 1,5% der Einwanderer aus den GUS-Ländern sind Mitglieder in einer politischen Partei oder Gewerkschaft. Ebenfalls ist die Mitgliedschaft in einem deutschen Interessenverein ist immer noch eine grioße Seltenheit bei dieser Community. Die meisten bevorzugen eine Mitgliedschaft entweder in einem Sportverein oder in einer christlichen Gemeinde. Dies gibt auch eine Erklärung dafür, warum sich rasch Ballungsgebiete für bestimmte Ethnien entwickeln.


9. Wie können wir die Wahrnehmung Deutschlands nach außen und innen verbessern?

Die Wahrnehmung Deutschlands sehen wir nicht als alleinige Aufgabe von ethnischen Deutschen. Nach unserer Überzeugung ist es eine Querschnittaufgabe, wobei alle dazu verpflichtet sind, ihren Beitrag dazu zu leisten. Nur gemeinsame Arbeit an der Erreichung dieses Ziels kann gute Resultate erzielen.
Siehe dazu unsere Antworten auf die Fragen 2 und 5.

10. Wie kann eine historisch gewachsene Gesellschaft wie die deutsche eine moderne Einwanderungsgesellschaft werden?

Es ist äußerst wichtig, die Erfahrungen anderer traditionell Einwanderungsländer zu nutzen. Unter anderem scheint uns das Kanadische Integrationskonzept sehr produktiv zu sein. In den sechziger Jahren wurde in Kanada das Konzept entwickelt, das dann zur gültigen Staatsideologie wurde und von der kanadischen Regierung in praktische Politik umgesetzt wurde.

Die "Philosophie des Multikulturalismus" lässt sich zu sieben Grundprinzipien zusammenfassen (nach Rainer Geißler: Multikulturalismus in Kanada - Modell für Deutschland? Bundeszentrale für politische Bildung, 2003)

(1). Prinzipielles Ja zur ethno-kulturellen Verschiedenheit (diversity): Die ethno-kulturelle Verschiedenheit wird prinzipiell positiv eingeschätzt - nicht nur, weil sie als Grundtatbestand der kanadischen Wirklichkeit gilt, sondern auch, weil man sie für vorteilhaft und produktiv hält. Es wird angenommen, dass sie Kräfte enthält, die der kanadischen Gesellschaft als Ganzes unter dem Strich mehr nützen als schaden. Ethno-kulturelle Vielfalt ist demnach Kraftquelle und Bereicherung.

(2). Recht auf kulturelle Differenz: Alle Menschen und Gruppen haben das Recht auf Erhaltung und Pflege ihrer kulturellen Besonderheiten. Es besteht also ein Recht, aber keine Pflicht oder gar Zwang zur ethnischen Identifikation.

(3). Prinzip der kulturellen Gleichwertigkeit und gegenseitigen Toleranz: Die verschiedenen ethno-kulturellen Gruppen sind gleichwertig. Aus diesem Prinzip leitet sich das Gebot gegenseitiger Toleranz ab.

Der Identifikation mit der Herkunftsgruppe soll jedoch die Identifikation mit der Gesamtgesellschaft vorausgehen. Erlaubt ist eine hierarchisch strukturierte Doppelidentität. Die Identifikation mit Kanada soll dabei primär, die Identifikation mit der Herkunftsgruppe sekundär sein. Der "Bindestrich-Kanadier" soll also in erster Linie Kanadier und erst in zweiter Linie Engländer, Schotte, Québécois, Deutscher, Ukrainer oder Chinese sein.

(4). Sicherheit-Kontakt-Hypothese: Das Recht auf Differenz gründet u.a. auf der empirisch bestätigten sozialpsychologischen "Sicherheit - und - Kontakt-Hypothese": Die Verankerung in der Eigengruppe fördert das Selbstbewusstsein und die psychische Sicherheit der Individuen und schafft so die Voraussetzungen für die Offenheit gegenüber anderen ethno-kulturellen Gruppen, die Toleranz und interethnische Kontakte erst ermöglichen.[6]

(5). Einheit-in-Verschiedenheit (unity-within-diversity): Ein Kern von gemeinsamen Grundwerten und -regeln (Verfassung, Gesetze, gemeinsame Sprache) garantiert den Zusammenhalt des Ganzen und setzt der Verschiedenheit und dem Recht auf kulturelle Differenz und dem Prinzip der kulturellen Gleichwertigkeit Grenzen. Der gemeinsame Rahmen hat einen klaren Vorrang vor den besonderen Teilkulturen. Einwanderer dürfen nur diejenigen Teile ihrer Kultur erhalten und pflegen, die nicht im Widerspruch zum verbindlichen gemeinsamen Kern stehen ("selektive Bewahrung der Kultur"). Die Gleichheit der Frau sowie häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder sind typische Bereiche, in denen manche Herkunftskulturen mit dem gemeinsamen Kern kollidieren. Da die Kernnormen dem europäischen Kulturkreis entstammen, relativiert das Prinzip "Einheit-in-Verschiedenheit" die Rechte auf kulturelle Differenz und Gleichwertigkeit; de facto gibt es eine Hierarchie der ethno-kulturellen Gruppen: Je mehr eine Kultur dem gemeinsamen Kern widerspricht, desto mehr werden ihr Unterordnung und Verzicht abverlangt.

Die Grenzziehung zwischen Verschiedenheit und Einheit (wo endet die gleichberechtigte Verschiedenheit, wo müssen sich kulturelle Besonderheiten dem gemeinsamen Kern unterordnen?) ist in einigen Punkten umstritten und Teil des politischen Diskurses.

(6). Recht auf gleiche Chancen: Mit dem liberalen Recht auf kulturelle Differenz ist das soziale Recht auf gleiche Chancen bei der Teilhabe an der kanadischen Gesellschaft verbunden. Der kanadische Multikulturalismus ist also nicht auf die kulturelle Ebene beschränkt, wie es der Terminus Multi-"Kulturalismus" suggerieren könnte, sondern enthält zwei fundamentale Rechte: neben dem Recht auf kulturelle Verschiedenheit auch das Recht auf soziale Chancengleichheit. Seine Herausforderung besteht darin, zwei Ziele gleichzeitig zu erreichen: kulturelle Verschiedenheit zu erhalten und ethnisch bedingte soziale Ungleichheit abzubauen.

(7). Management-Annahme: Multikulturalismus in dem skizzierten Sinne entwickelt sich nicht von selbst, sondern bedarf des politischen Managements - der politischen Ermutigung und Förderung.