Der Dialog der Kulturen und Traditionen in Deutschland

Vortrag von Abt Daniil (Irbits)


In einem Zeugnis der frühen christlichen Literatur des II. Jahrhunderts, dem "Brief an Diognet" wird das Verhältnis der Christen zu ihrer Umwelt charakterisiert. Dort heißt es, dass die Christen "im Vaterland wie Zugewanderte leben; sie haben Teilhabe an allem wie die Bürger, und sie ertragen alles wie die Fremdlinge. Für sie ist jedes fremde Land ein Vaterland, und jedes Vaterland – ein fremdes Land». Auf bestmögliche Weise spiegelt diese Charakteristik das Wesen jener Wechselbeziehungen wider, die zwischen der Kirche und der "säkularen" Gesellschaft bis zum heutigen Tag bestehen. Die Menschen, die zur Kirche gehören, sind zugleich Träger bestimmter kultureller Werte, die nicht nur ihre christliche, sondern auch allgemein ihre bürgerliche Identität beeinflussen. Es ist notwendig, beim Gespräch über den Dialog der Kulturen in einem Land auch den Kontext des Dialogs der Menschen, die nebeneinander als Nachbarn in einer Stadt, oder in einer Region leben, zu beachten. Dies ist wichtig, weil sie zu einem gemeinsamen kulturellen und bürgerlichen Umfeld gehören.

Der Prozess der Integration darf und muss von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Unsere Aufgabe ist es, eine christliche Sichtweise des Integrationsprozesses der Menschen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, die nun in Deutschland wohnen, zu erörtern. Dies ist deswegen so bedeutend, weil einerseits die Mehrheit dieser Menschen aus dem russischen Kulturbereich stammt, der unter dem Einfluss der christlichen Weltanschauung entstanden ist, andererseits weil die Kultur Deutschlands selbst ebenfalls ein christliches Fundament hat. Und obwohl sich die kulturellen Werte Deutschlands von den Werten der orthodoxen Kultur etwas unterscheiden, sind sie durchaus miteinander kompatibel. Außerdem möchte ein großer Teil unserer Menschen, die in Deutschland wohnen, nicht nur die Werte der heimatlichen Kultur bewahren, sondern sie auch, soweit das möglich ist, vermehren und an die Kinder weitergeben. Deshalb ist der erste Faktor, der die qualitative Integration der russischsprachigen Menschen ins vollwertige Leben der modernen deutschen Gesellschaft ermöglicht, der Faktor der menschlichen Persönlichkeit. Wenn die Menschen, die auf einem Treppenabsatz leben, in einem Haus oder in den benachbarten Häusern in einer Straße, zu verschiedenen kulturellen Räumen gehören, dann geschieht im Laufe der Zeit ihres Umgangs miteinander der natürliche Austausch von kulturellen Werten. Häufig spiegelt ein solcher Prozess auch das tiefe Interesse für die religiösen Werte wider, deren Träger diese Menschen sind. Es ist sehr gut, wenn sich das persönliche Interesse der Menschen füreinander in die gegenseitige Achtung der geistigen und kulturellen Werte des Gegenübers wandelt. Gerade dies kann man als erfolgreiche Integration bezeichnen. Aber es kommt auch vor, dass die Menschen die eigene Kultur und Spiritualität verlieren, wenn sie versuchen, sich eine andere anzueignen. In der Regel hat ein solcher Versuch keine Zukunft, weil die Eingliederung in eine kulturelle Schicht nur oberflächlich geschieht. In der Tiefe des Menschen bleibt die geistige Leere, die von der Nostalgie nach verlorenen Werten begleitet wird. Unsere Aufgabe, die Aufgabe der Kirche in einer solchen Situation ist es, den Menschen, die russisch sprechen und denken, zu helfen, dass sie nicht einfach zu Trägern der oberflächlichen Schicht der russischen Haushaltskultur werden, sondern dass sie ihrer Umwelt eine mehr oder weniger deutliche Vorstellung nicht nur von der russischen Kultur als solcher, sondern auch von ihrem geistigen Fundament vermitteln können.

Der heilige Apostel Paulus schrieb, dass es "in Christus weder Griechen noch Juden gibt". Damit betonte er die Vorrangstellung des geistigen Zustandes jedes Menschen vor dem nationalen. Dabei stützte er sich auf bestimmte Dominanten des Zustandes jedes Menschen, der zu Christus gekommen ist, und der Christus den Schatz seiner eigenen nationalen Kultur als Gabe und Opfer dargebracht hat, indem er sie der Gnade des Heiligen Geistes geweiht und mit ihrem tiefen Inhalt ausgefüllt hat. Deshalb bedeutet die Absage an die grundlegenden Werte der eigenen Kultur den Verlust der Werte und der geistigen Ordnung. In dieser Hinsicht ist die Tatsache interessant, dass die russische Kultur in Deutschland seit vielen Jahrzehnten präsent ist. In der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts wurde die Übersetzung des orthodoxen Gottesdienstes ins Deutsche angefertigt. Vom Ende des XIX. Jahrhunderts an wurden die Werke Turgenews, Dostojewskis und Gogols in deutscher Übersetzung verlegt; später, in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts, die literarischen Werke des Russen «des silbernen Jahrhunderts». Das zeigt nicht einfach die Verwurzelung der russischen Kultur in Deutschland als Staat, sondern auch die Achtung vor ihr in der deutschen Gesellschaft allgemein. In dieser Hinsicht findet die Bestimmung der richtigen Wechselbeziehungen zwischen den Menschen nicht durch das einfache Wissen um die Geschichte, die Bekanntschaft mit den Tatsachen der nationalen Geschichte der Völker statt, wenn ihnen nicht ein tieferes Verständnis einhergeht. Das wichtigste Moment ist das geistige Herangehen an die Geschichte, das geistige Verständnis aller historischen Ereignisse, die mit der Entwicklung der Staaten Deutschlands und Russland (sowie des ganzen kulturellen-historischen Raums des ehemaligen Russischen Reichs und der Sowjetunion verbunden sind).

Buchstäblich alle Ereignisse unserer gemeinsamen Geschichte muss man geistig durchdenken. Dann wird sich nicht nur die richtige Einschätzung solcher Erscheinungen herausbilden, etwa des Nazismus oder des Stalinismus, sondern es wird auch jeder die wahrhaften Gründe dieser Erscheinungen verstehen. Und man kann vermuten, dass in der modernen gesellschaftlichen Entwicklung die Prozesse, die mit der Wahrnehmung dieser oder jener Erscheinungen der Aggression verbunden sind – des Genozides, der Unterdrückungen des Willens eines Volkes durch ein anderes usw. – in erster Linie entweder durch den Wunsch der absoluten Liberalisierung des Bewusstseins für einen Teil der Gesellschaft bedingt sind, oder durch den Wunsch, einen anderen Teil zu zwingen, nach ihm wesensfremden Standards zu leben. Jeder Christ aber weiß, dass dieser und anderer ähnlicher Erscheinungen, der sehr fruchtbare Begriff der Sünde zugrungdeliegt. Deshalb muss man, wenn man eine Einschätzung der Werte vornehmen will, die der Mensch übernehmen soll (oder denen er zumindest mit Respekt begegnen soll), von der Position seiner Mitwirkung an der Sünde ausgehen. Dann ist es ziemlich einfach, die richtige persönliche Beziehung zu ihm aufzubauen und die Grenzen zu finden, bis zu denen man gehen kann, wenn man diese allgemeinen Werte übernimmt, aber die man keinesfalls übergehen darf, wenn man die eigenen Werte dabei nicht verlieren will. Für uns, die wir heute in Deutschland leben, ist es besonders wichtig, die richtige Beziehung zu einem Begriff wie Toleranz zu finden. In der modernen Gesellschaft ist leider nicht nur die wahrhafte Bedeutung dieses Wortes in Vergessenheit geraten, sondern oft wird ihm auch der genau entgegengesetzte Sinn beigelegt. Man muss alle Menschen lieben und nur die Sünde hassen. Deshalb ist bei der Einschätzung der Entwicklung der Toleranz in der europäischen Gesellschaft, und unter anderem in Deutschland, ein moderner geistiger Zugang am konstruktivsten und produktivsten. Wenn wir uns an die Worte des heiligen Apostels Paulus erinnern, dass "unser Kampf nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Geister der Bosheit zwischen Himmel und Erde...“ gerichtet ist, also gegen die Geister, die die menschlichen Handlungen leiten, und die dabei manchmal die Natur der menschlichen Handlungen verderben - dann gewinnt die tolerante Beziehung zu den Menschen "die nicht so sind, wie wir", ihre vollkommene geistige Bestimmung. Wenn wir die Prinzipien unseres eigenen geistigen Daseins bewahren, dann müssen wir das Urteil über die Richtigkeit der Handlung jedes anderen Gott überlassen. Dabei streben wir danach, mit den eigenen Handlungen die richtige Richtung der geistigen und kulturellen Entwicklung aufzuzeigen. Auf diesem Weg spielen die guten Beziehungen zwischen Kirche und Staat eine wichtige Rolle.

Eine Besonderheit Deutschlands ist, dass die orthodoxe Weltanschauung nicht zur Tradition der deutschen geistigen Kultur gehört. Zugleich gibt es viele gemeinsame Handlungen des Staates und der orthodoxen Kirche im Rahmen der bei der Regierung Deutschlands angesiedelten Kommission für die Integration. An diesem Punkt setzt die Position der Kirche an, dass man über die Integration der Menschen, die in Deutschland leben, aber zur russischen Kultur gehören, reden muss.

Integration bedeutet nicht Assimilation. Im ersten Fall bleiben die eigenen Werte als die Grundlage des Lebens erhalten, im zweiten Fall verwirklicht sich ihr voller Verlust. Für die moderne Gesellschaft Deutschlands ist es besser und vorteilhafter, wenn die eigenen Werte der russischsprachigen Menschen bewahrt werden. Gerade auf ihrer Grundlage soll sich die Integration ins Leben der deutschen Gesellschaft verwirklichen. Eine ähnliche Position wird auch auf der Ebene der Regierungen der Länder und Städte unterstützt. Nicht immer findet diese Herangehensweise volles Verständnis. Aber man kann die günstige Beziehung des deutschen Staates, die auf allen Ebenen deutlich wird, gerade zu solchem Stil der Konstruktion der Wechselbeziehungen zwischen unseren Menschen insgesamt bemerken. Die Hauptrolle in der Erhaltung des geistigen und kulturellen Erbes, auf dessen Fundament sich die qualitative Integration der Menschen russischer Kultur in die moderne europäische Gesellschaft verwirklicht, werden die Kirchen als Hauptbeschützer dieser Tradition haben. Die positive Beziehung des Staates zu den Werten der orthodoxen Kultur wurde darin deutlich, dass im vorigen Jahr in Deutschland das orthodoxe Männerkloster gegründet wurde. Offiziell leistete die deutsche Regierung keine staatliche Unterstützung für das Kloster, aber tatsächlich wurde auf allen Ebenen der staatlichen Strukturen die moralische Unterstützung gegenüber der begonnenen Sache zum Ausdruck gebracht. Zugleich wird seitens der Menschen, die in der Nähe des Klosters leben, aber auch allgemein in der deutschen Gesellschaft nicht nur die positive Beziehung zum Bau und der Entwicklung des russischen orthodoxen Klosters empfunden, sondern sogar ein Interesse daran, dass das Kloster der gegenwärtige Mittelpunkt der geistigen und kulturellen Bildung wird. Es ist interessant, dass die positive Beziehung zum Kloster unter Andersgläubigen der christlichen Umgebung (Lutheraner und Katholiken) empfunden wird, die im Kloster das gültige Zentrum der geistigen Entwicklung der Menschen der russischen Kultur und der Erhaltung ihres Kulturerbes sehen. Inzwischen vermutet man auch von Seiten der Kirche, dass die Haupterziehung der Persönlichkeit nicht in den Klöstern geschieht, die als Orte der geistigen Heldentat der Menschen existieren, wo man den weltlichen Sorgen entgeht und den großen Teil des Lebens dem Werk und Gebet widmet, sondern vielmehr in den Familien, wo die jungen Menschen von den Eltern die Grundlage der russischen geistigen Kultur vermittelt bekommen. Zugleich brauchen die Kinder, die im Kreis der Europäer leben, das qualitative Verständnis der eigenen Kultur und ihrer Beziehung zur Wirklichkeit, auf die sie im gewöhnlichen Leben stoßen, wenn sie sich mit den Altersgenossen in den Schulen und Jugendgruppen treffen. Für die Bewahrung der eigenen Werte und die qualitative Annahme der allgemeinen Werte der modernen Gesellschaft, werden im Rahmen der sozialen Tätigkeit von der Kirche verschiedene kulturelle und sportliche Veranstaltungen durchgeführt, an denen die Mitglieder der Gemeinden zusammen mit den Vertretern verschiedener staatlicher und öffentlichen Strukturen teilnehmen. Es gibt auch die kirchlichen Kinderlager zur Erholung während der Schulferien (in Sommer, Winter und Herbst). Eine Besonderheit dieser Form der Organisation der Kindererholung in Deutschland ist, dass außer der gewöhnlichen Erholung, die von der thematischen Beschäftigung mit den Grundlagen der geistigen Kultur und den Grundlagen des orthodoxen Glaubens begleitet wird, den Kindern die Beschäftigung mit der russischen und deutschen Sprache sowie mit dem Englischen nahegebracht wird, das eine offizielle Sprache des internationalen Verkehrs ist. Das heißt, hier entwickelt sich eine vollwertige Persönlichkeit, die das eigene geistige und kulturelle Fundament hat, oft ausgezeichnet und stärker als bei der umgebenden Gesellschaft, aber zugleich das intellektuelle und äusserliche kulturelle Niveau der Entwicklung entsprechend «den europäischen Standards» bewahrt. Ein solcher Weg scheint uns der produktivste unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft zu sein. Denn er erlaubt dem Menschen nicht einfach, die eigenen geistigen und kulturellen Werte in die Kultur seiner Umwelt zu integrieren, sondern auch, die "eigenen" Werte mit den Werten der Gesellschaft zu kombinieren, wobei die eigenen nicht vermindert, sondern die allgemeinen gesellschaftlichen Werte qualitativ verbessert werden.